Fredster über Musik, Kunst und seine Bilder von neuen Männlichkeiten

Jeux / 2020, Aquarell auf Papier

Fredster widmet sich seit 2005 dem Zeichnen. Zunächst studierte er Kunst und Grafikdesign in Belgien, später organisierte er alternative Queer-Partys in Paris. Heute lebt Fredster in Nantes und verbindet seine Leidenschaft für Musik und Illustration in audio-visuellen Performance-Projekten. Zentrales Konzept seiner Arbeit ist stets, starre Archetypen der männlichen Figur zu dekonstruieren und neue Bilder von Männlichkeit zu erforschen. Als langjähriger Freund und kreativer Kopf hinter dem Motiv des ersten BOUYGERHL-Festivals 2006 (dem namensgebenden Projekt) ist der französische Künstler der perfekte Partner für das erste BOUYGERHL-Interview.

Bouygerhl: Wir kennen uns seit 2005 – und fast genauso lang unterstützt du meine Veranstaltungen mit deiner Kunst. Irre, oder?

Fredster: Total irre! Ich schaffe es nur sehr selten, den Kontakt über eine solche Entfernung lange aufrechtzuerhalten und auf derselben Wellenlänge mit jemandem zu bleiben, wenn man sich nur so selten sieht. Es ist super, dass das bei uns geklappt hat. Ich freue mich total auf dieses Interview und auf den Start des Projekts.

BG: Ich weiß, dass Musik in Deinem Privatleben eine sehr große Rolle spielt. Viele Deiner Illustrationen zeigen Musiker*innen oder zieren Artworks von Partys, Konzerten und Festivals. Woher kommt diese Leidenschaft?

F: Darüber habe ich noch nie wirklich nachgedacht! Vermutlich ist sie – wie die Leidenschaft für das Zeichnen – in meiner eher langweiligen Jugendzeit entstanden. Ich bin in einer kleinen Industriestadt aufgewachsen, in der es, abgesehen von sportlichen Aktivitäten, fast kein kulturelles Leben gab. Da ich mit Sport überhaupt nichts anfangen kann, habe ich meine Freizeit hauptsächlich damit verbracht, Musik zu hören und zu zeichnen. Um ehrlich zu sein, hat sich daran bis heute nicht viel geändert. Durch meinen Bruder, der ein großer Fan von The Cure war, habe ich den Post-Punk für mich entdeckt, zum Beispiel Bands wie Joy Division oder Virgin Prunes. Aber auch Songs anderer berühmter Künstler*innen wie Madonna oder Mylène Farmer habe ich sehr gerne gehört. Auch heute noch mag ich die Mischung aus Pop-Musik und experimenteller Musik.

BG: Die Musik welcher Künstler*in beeindruckt Dich ganz aktuell?

F: Das aktuelle Album von Arab Strap 'As Days Get Dark' gefällt mir besonders gut. Es ist wirklich großartig und sehr modern. Seit Veröffentlichung läuft es bei mir fast in Dauerschleife. Auch die erste EP von Franky Gogo 'Fast and Too Much' finde ich klasse, weil die Musik so inspirativ und vielschichtig ist. Andere aktuellere Künstler*innen, die ich sehr gerne höre, sind zum Beispiel Jungstötter, For Those I love, Rina Sawayama, Black Country New Road oder Radical Kittens. Und erst vor Kurzem habe ich Alain Kan für mich entdeckt, einen queeren, französischen Künstler, der in den Neunzigern verstorben ist. Seine Musik ist eine Art theatralischer Punk, fast schon Cabaret-Musik, und einfach genial!

Transparent, verschwimmend, immateriell

BG: Du sagst, das zentrale Konzept Deiner Arbeit sei, Archetypen der Männlichkeit zu dekonstruieren, um neue Bilder von Maskulinität zu erforschen. Was sind für Dich diese neuen Bilder?

F: Ich bin nach wie vor auf der Suche. Männlichkeit ist für mich ein eher fließendes Konzept, das ständig neu erfunden werden kann. Es gibt nicht nur die eine Art der Männlichkeit. Jede Person sollte in der Lage sein, ihre Genderidentität auf eine eigene Art und Weise auszudrücken, auch wenn dies von den gesellschaftlichen Normen abweicht. Und genau das versuche ich in vielen meiner Bilder zu übermitteln. Dafür dehne ich das starre Konzept der Männlichkeit in meinen Werken mithilfe von transparenten, verschwimmenden und immateriellen Körpern zu einer viel fließenderen Identität aus.

BG: Bei Deinen aktuellen Werken sehe ich eine gewisse Gegensätzlichkeit: Die positiv-grelle Farbigkeit steht für mich im Kontrast zu einer spürbaren Sentimentalität in den Motiven selbst. Wie geht das zusammen?

F: Ich liebe Kontraste. Und ich liebe es, Sachen miteinander zu verbinden, die eigentlich im Gegensatz zueinander stehen. Sentimentale oder düstere Szenen stelle ich also am liebsten mit leuchtenden und kräftigen Farben dar. Ich denke, dass die Intention des Bildes damit besser zum Ausdruck gebracht werden kann, weil die Ambivalenz von Gefühlen oder Empfindungen viel deutlicher wird. Außerdem ist es eine gute Möglichkeit, die Betrachter*innen zum Nachdenken darüber anzuregen, was sie sich gerade ansehen. Farben sind ein zentraler Bestandteil meiner Arbeit geworden. Schon seit mehreren Jahren habe ich Schwarz aus meinen Bildern komplett verbannt. Stattdessen nutze ich eine Farbpalette, die im kompletten Gegensatz zu den Farben steht, mit denen Männlichkeit üblicherweise dargestellt werden soll. Das heißt, ich bevorzuge Pastelltöne und stark verdünnte, leuchtende Farben.

BG: Das führt direkt zur nächsten Frage. Ab einem gewissen Zeitpunkt änderte sich Deine Stilistik. Weg von schwarz-weißen Strichzeichnungen, hin zu den intensiven Farbflächen. Die 'Männergruppe am Strand' war der Anfang dieser Phase. Wie muss man sich so einen Entwicklungsprozess vorstellen? Woher kommt der Impuls. bzw die Inspiration?

F: Dieser Wandel zur Farbe war für mich ganz natürlich. Ich glaube der ausschlaggebende Punkt dafür war mein Umzug von Paris nach Nantes. Damals befand ich mich in einer sehr dynamischen Phase der Erneuerung, hatte aber bereits großes Vertrauen in mein zeichnerisches Talent gefasst. Ich erinnere mich noch daran, dass ich eine Ausstellung besucht habe, die Jérôme Zonder gewidmet war. Ich war überwältigt von seinen schwarz-weißen Zeichnungen und der Modernität seiner Arbeit, obwohl er eine eher traditionelle Technik verwendet. Seltsamerweise hat mich diese schwarz-weiße Ausstellung dazu gebracht, vermehrt auf Farbe anstelle von Strichzeichnungen zurückzugreifen. Ich nutze die schwarz-weißen Strichzeichnungen jedoch nach wie vor zur Vorbereitung meiner Bilder. Die Skizzen haben eine große Ähnlichkeit mit meinen früheren Werken, aber ich zeige sie so gut wie nie.

BG: Nacktheit und explizite, queere Sexualität sind ebenfalls ein großes Thema – oft sind dabei Gesichter verdeckt oder fehlen. Was steckt dahinter?

F: Das mache ich tatsächlich eher unterbewusst. Wenn ich an einem erotischen Bild arbeite, dann konzentriere ich mich vor allem auf die Körper und wie sie miteinander interagieren. Bei der Arbeit an einem Portrait geht es hingegen mehr um den Geist, das Metaphysische. Wenn man die beteiligten Personen in den erotischen Szenen klar erkennen kann, dann schafft das meiner Meinung nach eine Barriere zwischen den Betrachter*innen und der Handlung. Es hindert sie daran, sich in das Bild hineinzuversetzen. Indem ich die Personen anonymisiere, ermögliche ich es allen, sich in die dargestellte Szene einzufühlen.

Haunted Boner / 2014, digitale Zeichnung

BG: Deine ganz frühen Arbeiten sind eine klare Hommage an den queeren Künstler Pierre Molinier. Kannst Du unseren Leser*innen verraten, warum man ihn sofort googeln sollte?

F: Er war ein Genie. Ein Vorreiter in der Darstellung von Genderidentitäten und fließender Sexualität in den sechziger Jahren. Als ich seine Collagen Anfang der 2000er entdeckte, hat mich das sehr bewegt. Damals war das Thema der Genderidentität nicht so alltäglich wie heute. Und erst durch seine Fotografien sind mir die Probleme im Zusammenhang mit z. B. Queer-, Trans- und nicht-binären Identitäten erst richtig bewusst geworden. Darüber hinaus sind seine visuellen Darstellungen grandios, zeitlos und auch heute noch voller Aussagekraft. Ich habe gesehen, dass Violet Chachki die Ästhetik Moliniers sogar als Inspirationsquelle für ihr letztes Video genutzt hat.

Sehen und fühlen statt versuchen zu verstehen

BG: In Rahmen Deines audiovisuellen Projekts NOVÖ YŪREI, mit dem queeren Musiker Fabrizio Modonese Palumbo, verbindest Du nun Deine zwei Leidenschaften Musik und Kunst. Zunächst: Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

F: Ich bin ein großer Fan von Fabrizio und seinen Projekten Larsen und ( r ). Deshalb folge ich ihm auch in den sozialen Netzwerken. Eines Tages bekam ich eine Nachricht von Fabrizio, in der er meine Bilder lobte und schrieb, dass „wir unbedingt mal zusammenarbeiten sollten“. Ich habe mich sehr über seine Nachricht gefreut und einer potenziellen Zusammenarbeit natürlich sofort zugestimmt. Daraufhin haben wir das Projekt NOVÖ YŪREI auf die Beine gestellt, eine Art Konzert/Bühnenstück, in dem Live-Musik mit Projektionen meiner Zeichnungen und kurzen Theatereinlagen vermischt wird. Außerdem hat Fabrizio parallel zu unserer Show eine Ausstellung mit meinen Bildern in einer Galerie in Turin organisiert.

BG: Der Name NOVÖ YŪREI stellte mich vor eine kleine Herausforderung. Auch beim Untertitel 'a post-cartoonist shunga' kam ich nicht so richtig weiter. Klär mich bitte auf!

F: Sehr gerne! Ich gebe meinen Projekten gerne rätselhafte Namen, um nicht zu viel über ihren Inhalt preiszugeben. Auf diese Weise sind die Zuschauer*innen viel besser in der Lage, das Gesehene zu fühlen und versuchen nicht permanent, es zu verstehen. Für das Projekt mit Fabrizio habe ich versucht, zwei Wörter zu verbinden, die meine wichtigsten Inspirationsquellen, sowohl in der Musik als auch in der Kunst, widerspiegeln. Das sind zum einen der Post-Punk und zum anderen die japanische Druckgrafik. Das Wort 'NOVÖ' habe ich aus dem Buch 'NovöVision' von Yves Adrien entliehen (einem autobiographischen Essay über die Post-Punk-Szene und ihr Vermächtnis). Das Wort 'YŪREI' stammt aus dem Japanischen und bezeichnet eine Art dunklen Geist. Den Untertitel haben wir hinzugefügt, um deutlich zu machen, dass während des Stücks animierte Projektionen einiger erotischer Zeichnungen gezeigt werden. Da es sich um experimentelle Zeichnungen handelt, habe ich 'post' (Post-Punk/postmodern) und 'Cartoon' zu dem Adjektiv 'post-cartoonist' verbunden. Und durch den Begriff 'Shunga' (das sind japanische Drucke, in denen explizite sexuelle Handlungen dargestellt werden) wird der sexuelle Aspekt der Projektionen deutlich. Ich gebe aber zu, dass die Herleitung nicht ganz einfach ist.

Männlichkeit ist für mich ein eher fließendes Konzept, das ständig neu erfunden werden kann. Es gibt nicht nur die 'eine' Art der Männlichkeit.

BG: Die Sehnsucht des Stücks ist es, dass soziale Codes von Männlichkeit verschwimmen und sich männlicher Habitus auflöst. Wie geschieht das auf der Bühne? Was erwartet mich?

F: In den Animationen wird das vor allem in den Momenten deutlich, in denen die Zuschauer*innen sehen, wie sich männliche/maskuline Körper erst zusammensetzen und dann auflösen oder verwandeln, also von einem Zustand in einen anderen überwechseln. Die klassische Männlichkeit wird in dem Stück also auf die Probe gestellt und so verformt, dass sie einem Geist oder einem Gespenst ähnelt, der/das uns immer wieder heimsucht. Und zwar sowohl in unseren gesellschaftlichen Interaktionen als auch in unseren Partnerschaften. Das Konzept der gespenstischen Männlichkeit zieht sich als roter Faden durch das gesamte Stück, zum Beispiel in Form von Zeichnungen oder als Darstellung während der Theatereinlagen.

BG: Corona hat Dir – wie so vielen – einen Strich durch die Rechnung gemacht, Aufführungen mussten verschoben werden. Wie geht es weiter? Gibt es schon Pläne?

F: Ich habe das ganze letzte Jahr mit dem Choreographen Gael Rougegrez zusammengearbeitet, um ein Stück zum Thema Männlichkeit auf die Beine zu stellen, das auf meinen Zeichnungen basiert. Das Stück ist nun fertig und wir würden es sehr gerne der Öffentlichkeit präsentieren. Doch leider musste die Premiere aufgrund der Hygienevorschriften bereits mehrmals verschoben werden. Wenn alles gut läuft, sollten wir das Stück jedoch zu Beginn der Saison 2021/2022 in Nantes vor Publikum präsentieren können. Dafür drücke ich uns fest die Daumen! Zeitgleich mit der Premiere werden auch meine Bilder in dem Theater ausgestellt. Ich kann es kaum erwarten, euch das alles zu präsentieren!

Gestern und Heute

BG: Eine unserer ersten Zusammenarbeiten fand 2006 im Rahmen des ersten 'BOUYGERHL Queer Music Festivals' statt. Weder Du noch ich konnten ahnen, dass dort der inhaltliche und namensstiftende Grundstein für das BOUYGERHL-Archiv gelegt wurde. Welche Erinnerungen hast Du an dieses Wochenende?

F: Ich erinnere mich an ein tolles Wochenende in Leipzig mit performativen Konzerten von Miss Fish und Nuclear Family. Aber am allermeisten ist mir ein queerer Gesellschaftstanzkurz im Gedächtnis geblieben! Da gab es so viel Freude, gute Laune und Queerness: Einfach fantastisch!

BG: Zum Schluss unsere fünf BOUYGERHL-Quickies:

Guilty Pleasure?
The Real Housewives of Beverly Hills

Celebrity Crush?
Tony Danza

Dein perfekter Sonntag?
Nach einer wilden Party mit einem Kater aufzuwachen, eine Pizza bestellen und die dann gemeinsam mit meinem Freund bei einer guten Serie essen.

Madonna oder Gaga?
Gaga!

Kunst is ...?
Eine Möglichkeit, sich elegant auszudrücken.

BG: Damit schließt sich quasi ein Kreis: Angefangen hat unsere Kollaboration mit dem BOUYGERHL-Festival 2006 – und auch mein neues BOUYGERHL-Projekt 2021 startet wieder mit uns beiden. Und wer weiß: Vielleicht gibt es auch irgendwann wieder ein Festival? Danke für das Interview!