"Ich brauche keine Schublade": Rapper Avery im Interview

  • Ein Beitrag von Gastautorin Novir Gin

Blondes Haar, verschmitztes Lächeln, lässiger Walk und selbstbewusste Haltung. Müsste ich meinen ersten Eindruck von Avery in einem Wort zusammenfassen, wäre es: außergewöhnlich! Bereits mit seinem Auftreten bricht Avery durch Jogginghose und Sneaker jede Mainstream-Klischee-Vorstellungen von Drag und sorgt damit für Aufmerksamkeit. Doch wer aufgrund des Outfits seine Erwartungen an diesen Bouy herunterschraubt, täuscht sich gewaltig.

Denn Avery ist die Antwort auf die Frage, was die deutsche Drag- und Hip-Hop-Szene gemeinsam haben. Mit ehrlichen Power-Lyrics und aussagekräftigen Musikvideos rechnet er mit queer-feindlichem, sexistischem Verhalten ab und kritisiert das gefeierte Bild von Männlichkeit in der Rap-Szene. Dabei scheut sich Avery nicht davor, die eigene Geschichte der Diskriminierung zu erzählen und den damit verbundenen Schmerz zu thematisieren.

In den vier Songs der Debüt-EP 'Ungefiltert' lässt Avery die Hüllen fallen und nimmt uns mit auf eine Achterbahn der Gefühle. Nach dem Track 'Eskalation', der ganz im Sinne des EP-Openings musikalisch die Korken knallen lässt, wird es sehr tiefgründig und persönlich. Avery spricht in der Single 'Du bist nicht allein' – zusammen mit der Hamburger Rapperin Finna – über psychische Gesundheit, das Leben am mentalen Abgrund und über Zuversicht auf ein besseres Leben. Die aus dieser Zeit gewonne Stärke kommt in 'Merk dir meinen Namen' zum Vorschein – ein Statement: Avery ist gekommen, um zu bleiben! Neben Kritik an heterosexueller Ignoranz und Schubladendenken, meißelt das EP-Finale mit 'Was ich will' in Stein, was wir von Avery in Zukunft weiterhin erwarten können: einen unentschuldigten Kampfgeist gegen queere Ausgrenzung und für queere Liberation.

Es ist geil, anders zu sein

Anlässlich der Veröffentlichung der EP 'Ungefiltert', hat Avery uns ein paar Interviewfragen beantwortet:

Novir Gin: „Mach die Augen auf, erkenne welchen Wert du hast.“ – Was war Dein Durchbruchsmoment, um den Mut und die Stärke für Deinen Weg als Künstler*in zu finden?

Avery: Als ich 2019 nach Hannover gezogen bin. Gebürtig komme ich aus einer kleinen Stadt namens Minden. Dort habe ich zwar auch schon in meiner Jugend viel Kreatives gemacht, mit Make-up experimentiert – aber so richtig habe ich meinen Weg erst in Hannover gefunden und auch Hip-Hop für mich gefunden. Für den Mut und die Stärke gab es aber glaube ich keinen richtigen 'Moment'. Ich war schon immer anders und da es dadurch natürlich in meiner Schulzeit sehr viele Anfeindungen gab, habe ich krass viel Stärke aus dieser Zeit mitgenommen. Ich würde sagen, so ab 15 hat es mich nicht mehr interessiert, was andere sagen und einfach mein Ding gemacht.

NG: Männlich gelesene Präsentation ist für Dich keine Option gewesen. Was macht es für Dich anstrebenswert, bei Deinem Auftreten als Frau gelesen zu werden?

A: Es macht mir einfach mehr Spaß. Ich liebe die Kreativität dahinter. Mit meinem Team für jede Single neue Looks auszudenken, ist super spannend. Ich weiß auch gar nicht, ob ich sagen würde, dass ich komplett als 'Frau' gelesen werde. Für mich ist mein Look schon mehr androgyn – der Gesichtsbereich ist zwar schon eher feminin, aber bei den Klamotten bin ich teilweise sehr im 'männlichen' Schlabberlook.

NG: Drag als Kunstform besitzt den Zauber, eine neue Seite der Persönlichkeit sowie verborgene Fähigkeiten aufzudecken. Welchen Unterschied hat Drag in Deinem Leben gemacht?

A: Drag hat mir krass viel gegeben. Besonders früher, als ich noch nicht so ein starkes Selbstbewusstsein hatte, konnte ich mich mit Make-up, Haaren und Klamotten in ein anderes Universum katapultieren. Heute ist 'Avery' nicht mehr nur eine Drag-Persona für mich. Daher bevorzuge ich auch die er/ihn Pronomen. Kenne von vielen Drag-Kolleginnen, dass die Persönlichkeit sich ändert im Look, bei mir ist das nicht so. Ich bin Avery.

NG: Während ich zu meiner Standardgarderobe Korsett und High-Heels zähle, entscheidest Du Dich bewusst für Jogginghose und Sneaker. Magst Du kurz die Bedeutung Deines Kleidungsstils für Dich und Deine Inspiration erläutern?

A: Ich liebe die Provokation dahinter. Den Abfuck von gestylten Haaren und Make-up und dann dazu dieser typische Hip-Hop Look. Viele erwarten die 'typische' Drag-Queen und wenn sie mich sehen, wissen sie gar nicht, in welche Schublade sie mich jetzt packen sollen. Fakt ist – ich brauche keine Schublade.

Wenn sie mich sehen, wissen sie gar nicht, in welche Schublade sie mich jetzt packen sollen. Fakt ist – ich brauche keine Schublade.

NG: Queerer Lifestyle ist eng verbunden mit dem Nachtleben. Auch Dein Song 'Eskalation' beschreibt eine gute Zeit beim Feiern in Hannover. Hat die Partykultur einen prägenden Einfluss auf die Entwicklung von Avery?

A: Die Partykultur hat einen riesigen Einfluss auf mich. Ich habe einen ganz normalen 9-to-5-Job und kann beim Feiern einfach abschalten. Alleine das Zusammenkommen mit meinen Freunden – einmal (oder vielleicht auch zwei-, dreimal) in der Woche – ist mir wichtig. Dabei kann ich viel Inspiration sammeln. Auch die besoffenen Gespräche auf dem Klo mit wildfremden Leuten sind für mich jedes Mal ein Highlight.

NG: In Deinen Texten thematisierst Du Deine Identität und kritisierst den Umgang der Gesellschaft mit Gender und Sexualität. Wie erlaubt Dir Deutsch-Rap, Deinem Anliegen Gehör zu verschaffen?

A: Deutsch-Rap ist einfach hart und ehrlich. Ich brauche kein Blatt vor den Mund nehmen, wie z.B. im kommerziellen Pop. Besonders die queere Sparte im Hip-Hop ist super interessant und leider immer noch eine große Nische. Es gibt so viele talentierte Artists, die sich für unsere Rechte einsetzen, z.B. Finna oder Mariybu. Mir fällt es auch viel leichter meine Worte in einen Rap-Text zu packen, als nur in einen normalen Text. Ich kann meine Aggressionen abbauen, die ich auf die Leute habe, die mich damals fertig gemacht haben. Das ist mein Mittelfinger zurück, zu dem ich in der Schule keinen Mut hatte.

NG: Dass Du keine Person bist, die durch die Blume redet, hast Du mit Deinem Song 'Schwuchtel' deutlich gemacht. Mit welcher Absicht hast Du diesem stark emotional aufgeladenen Begriff einen Song gewidmet?

A: Ganz ehrlich, Schwuchtel ist mittlerweile für mich ein so normales Wort geworden. Ich habe das so oft gehört, dass ich inzwischen drüber lachen muss, wenn es jemand zu mir sagt. Ich weiß aber auch, dass nicht jeder diese Kraft hat. Darum habe ich den Song gemacht – um diesem Wort eine andere Bedeutung zu geben. Ja, ich bin eine Schwuchtel, na und? Ist doch geil! Das hat sich mittlerweile so in meinem Kopf verankert, dass ich eher mit einem Lächeln auf das Wort reagiere.

„Ja, ich bin eine Schwuchtel, na und? Ist doch geil!“

NG: Die deutsche Hip-Hop- und Rap-Szene ist sicherlich nicht nur vor dem Vorhang, sondern auch dahinter, von Heteronormativität und Männlichkeit geprägt. Was war die größte Herausforderung und die größte Erkenntnis in der Branche auf dem Weg zum Release der EP?

A: Der Weg zur EP war laaaang. Ich glaube, die härteste Mission war, Producer zu finden, die deine Message verstehen und sich nicht nur denken: „Oh, dem kleinen Schwulen nehme ich jetzt mal das Geld aus der Tasche“. Generell wird man nicht gleichwertig gesehen, wie z.B. ein Cis-Dude, der über Drogen und Nutten rappt. Mittlerweile habe ich so viele tolle Leute aus dem Rap-Game getroffen, die keine diskriminierende Einstellung haben, wie es sonst üblich in dieser Szene ist. Ganz große Props an meinen Producer Niki Tall und Lina von Mona Lina Promo, die mir mit nur einer Mail so krass die Augen geöffnet hat zu dieser Szene.

NG: Utopie: Du reist mit einer Zeitmaschine zurück und hast die Möglichkeit, Deinem jungen Ich Deine EP 'Ungefiltert' vorzuspielen. Was sollte Klein-Avery von diesem Erlebnis für seinen kommenden Lebensweg mitnehmen?

A: Ai ai ai, ich glaube zwei Songs würde ich Klein-Avery nicht vorspielen, da sie doch eine sehr starke Wortwahl haben. Spaß. Ich habe 'Ungefiltert' geschrieben, um insbesondere jungen Leuten Stärke zu geben, dass es geil ist, anders zu sein. Egal, ob Du schwul, lesbisch, trans, non-binary, Frau, Mann, inbetween, whatever bist. Klein-Avery soll mitnehmen, dass du nicht allein bist und es Millionen von Menschen gibt, die anders sind, als was die Gesellschaft als Norm vorschreibt. Das hätte ich früher gebraucht, daher auch mein persönlicher Lieblingssong auf der EP 'Du bist nicht allein'.

Zum Schluss unsere fünf BOUYGERHL-Quickies:

Die Musik welcher Künstler*in beeindruckt Dich ganz aktuell?
Nashi44 – so eine geile Newcomerin.

Celebrity Crush?
Maluma

Quilty Pleasure?
Der Song 'Leck Sibbi' von Nimo.

Bester Lifehack?
Wenn das Klo verstopft ist und du keinen Pömpel hast, schneide eine PET-Flasche auf – zack, haste da ein Vakuum.

Mein zu Hause ist ...?
Da, wo der Kühlschrank voller Wein ist.


Gastautorin d'Amour: Novir Gin

Drag-Künstlerin Novir Gin begeistert die Leipziger Kunstszene mit Kreativität und politischem Aktivismus. Selbst gestylte Perücken, eigenes Make-up, selbst konzipierte/genähte Outfits: Hier kann man von einem Gesamtkunstwert – quasi von oben bis unten – sprechen. Novirs Lip-Sync-Performances lassen stets Entertainment, eindrucksvolles Storytelling und eine politische Message erwarten und ihre Fotografie-Konzepte haben es bereits in die ein oder andere Kunst-Ausstellungen geschafft.

Hinter der anschaulichen Fassade steckt eine faszinierende Persönlichkeit, die nicht nur durch ihre eigenen Erfahrungen als queerer Mensch, sondern auch durch ihre Ausbildung im Bereich der Genderforschung und queeren Pädagogik ein reflektiertes Verständnis für die queere Lebensrealität hat und dieses Wissen in ihre Arbeit als Künstlerin integriert.

  • Interview Novir Gin
  • Fotos Klaas-Yskert Tischer, Florian Linne, Tabea Virginia