Paura Diamante: Video-Premiere & Interview
Irre! Paura Diamantes Debüt-Single katapultiert mich direkt zurück in meine frühen Grufti-Jahre Mitte der 90er. 'Berlin' ist ein bittersüßer Synth-Wave-Chanson, eine pulsierende Ode an eine ambivalente Stadt, in der seit jeher Dekadenz und Depression den Boden bereiteten für den Tanz am Abgrund.
Dieser fordernde Beat, diese sonore Stimme, diese ergreifende Wehmut und dieses Legendary-Pink-Dots-esque Saxophon - das alles trifft genau den richtigen Nerv. Ich habe die Play-Taste (am imaginären Kassettenrekorder) erst zum zweiten Mal gedrückt, und schon bekomme ich die Hookline nicht mehr aus dem Kopf: "Let me be the ocean / that whispers to the shore of falling tears". Ich seh' den Nebel auf der Tanzfläche förmlich vor mir, Patchouli liegt in der stickigen Kellerclub-Luft, Gin Tonic, früh um 3 – die Tanzfläche gehört mir ganz allein!
Ich stehe nämlich total auf diesen eher 'pathetischen' Dark-Wave - und das meine ich im besten Sinne. Paura Diamante verfolgt einen anderen Ansatz, als der kühle, glatte Synth-Sound, der seit einiger Zeit erfolgreich ein Revival feiert. Einen Sound den wir Goth-Kids natürlich alle auch lieben, aber am Ende des Tanzabends geht das Herz doch erst bei Silke Bischoffs 'On the other Side' so richtig auf. Und genau da setzt 'Berlin' an.
Inspiriert von Büchern der Neuen Sachlichkeit, wie Irmgard Keuns 'Das Kunstseidene Mädchen' (1932), dem dilettantisch unterkühlten Charme von Marianne Enzensbergers 1984er-Vampirfilm 'Der Biß' oder der distanzierten Eleganz von Synth-Wave-Songs von Künstler*innen wie Jo Lemaire oder Ronny, erschuf Paura Diamante gemeinsam mit Musiker und Produzent Electrosexual eine nihilistische Hymne an das nächtliche Lebensgefühl einer maroden Stadt.
Das Video zu 'Berlin' wurde unter der Regie des in Berlin und London lebenden, südafrikanischen Fotografen und Kameramanns Arno nach den Ideen von Paura Diamante im queeren Neuköllner Club SchwuZ gedreht.
Bouys & Gerhls – viel Spaß!
Klischees angstlos begegnen
Anlässlich der Video-Premiere auf bouygerhl.com, hat Paura Diamante mir ein paar Interviewfragen beantwortet:
Bouygerhl: Du hast bereits Mitte der 90er-Jahre mit verschiedenen Wave/Goth/Folk-Projekten Songs veröffentlicht. Wieso dann die Pause? Und was ist der Grund, warum Du musikalisch genau jetzt wieder loslegst?
Paura Diamante: Stimmt, ich habe ab 1992 Musik gemacht und hier und da mit meinen Bands Kleinigkeiten veröffentlicht. Damals war der Tape-Underground ziemlich lebendig, etliche Bands ohne Plattenvertrag vertrieben ihre Demos selbst über die Kleinanzeigen von Szenemagazinen. Das war eine spannende Zeit. Aufnahme + Wiedergabe haben 2016 einen Sampler unter dem Namen 'The Second Wave' mit einigen dieser Bands von damals veröffentlicht. Ich will hier aber ganz ehrlich sein: Wir gehörten nicht gerade zur erfolgreichen Speerspitze dieser Welle. Was die ganze Sache tendenziell auch eher mühsam machte, war die Tatsache, dass man damals nicht so einfach wie heute mit einem Computer Mucke machen konnte. Man brauchte viel mehr Equipment. Auch Aufnahmen zu machen war umständlicher. Wir haben die ersten Sachen noch mit einem Vierspur-Recorder aufgenommen, das klang entsprechend scheiße. Als ich dann Ende der 90er nach Berlin kam, hab ich solo noch eine EP im Studio eines Freundes aufgenommen, und als der dann nach Hamburg zog, war es irgendwie vorbei. Ich wollte auch erstmal raus in die Stadt und mich ins Leben stürzen. Naja – und plötzlich waren zwanzig Jahre rum. Ich habe das immer bereut, damals nicht weitergemacht zu haben. Und irgendwie musste ich diese Wunde endlich mal schließen. Die Pandemie und der erste Lockdown haben dann 2020 wie ein Katalysator gewirkt. Ich dachte: Ich muss das jetzt tun, sonst platzt mein Kopf.
BG: War von Anfang an klar, Paura Diamante als Drag-Persona zu präsentieren? Wie wichtig ist dieser queere Ansatz für Deine Arbeit?
PD: Ich bin, was ich bin. Deshalb stand das für mich nie wirklich zur Debatte. Von einem 'queeren Ansatz' zu sprechen, klingt nach einer theoretischen Agenda, die ich nicht habe. Meine queere Identität ist alternativlos, es konnte also alles nur genau so sein.
Ich bin, was ich bin. Meine queere Identität ist alternativlos, es konnte also alles nur genau so sein.
BG: Stilistisch ist Deine Debüt-Single eine Hommage an gewisse 'cheesy' Dark-Wave-Songs der frühen 90er. Einen Sound, den man heutzutage, zwischen all dem kühl-glatten Hipster-Wave, ja eher seltener hört – und genau das macht es so anders und aufregend. Was fasziniert Dich an diesem speziellen Sound?
PD: Also wenn Du den Song cheesy findest, dann haben wir ja schon mal alles richtig gemacht. Ich betrachte mich ohnehin als die Juliane Werding des Darkwave. Tatsächlich spielen die 90er in meinem musikalischen Universum aber eher eine marginale Rolle, insofern amüsiert es mich etwas, dass unsere Musik in diesem Kontext rezipiert wird. Unser Ausgangspunkt waren eher schwülstige Synth-Wave-Chansons der 80er-Jahre, wie 'Blue Cabaret' von Ronny oder 'Je Suis Venue Te Dire Que Je M'en Vais' von Jo Lemaire + Flouze. Textlich habe ich versucht, Klischees angstlos zu begegnen, und bestimme Worte so mit neuer Wahrhaftigkeit aufzuladen. Eine Haltung, die sich ja auch in den frühen 80er-Jahren finden lässt, da muss man sich nur mal die Lyrics von Anja Huwe bzw. Xmal Deutschland anschauen. Ich liebe ihre Texte, obwohl sie mitunter unfassbar klischeebeladen sind. Ich meine, wer traut sich schon, Dinge wie „Folge mir, flüsterst du im Mondlicht“ zu singen? Und Anja tat das mit einer Ernsthaftigkeit, dass es mir heute noch kalt den Rücken runterläuft.
BG: Dein Song heißt 'Berlin' und ich habe das Gefühl, dass diese Art von Musik auch nur aus dem wilden, ungestümen Berlin kommen kann. Was gibt Dir diese Stadt?
PD: Alles, aber im Moment ist das recht wenig. Berlin wirkt ein bisschen wie die Kulisse eines Theaterstücks, das nicht mehr gespielt wird – wie eine Freundin mal sagte. Ich ertrage Berlin nur schlecht, habe aber außerhalb der Stadt das Gefühl, nicht atmen zu können. Insofern würde ich hier von einer klassischen Hassliebe sprechen. Nach all den Hochphasen, die Berlin in den frühen 80ern, dann in den 90ern und schließlich in den 00er-Jahren erlebt hat, kommt man hier langsam auf dem Boden der Tatsachen an: Gentrifizierung, Verdrängung (linker) Freiräume und eine immer monochromer werdende Clubkultur, garniert mit dem Gestank von Pisse. Trotzdem möchte ich an keinem anderen Ort leben.
Diese Szene, diese Musik und diese Menschen haben mich bis heute nie losgelassen. Ich werde also am Ende immer ein Goth-Kid bleiben, das ist Teil meiner DNA.
BG: Für den Song hast Du mit dem queeren Berliner Produzenten und DJ Electrosexual zusammengearbeitet. Wie kam es zu dieser Kollaboration?
PD: Ich kenne Romain schon seit über zehn Jahren. Wir teilen einige musikalische Vorlieben und ich fand seine Arbeit immer großartig. Ich suchte jemanden, der mein Demo, das ich primär mit akustischer Gitarre eingespielt hatte, in einen rein elektronischen Song verwandelt. Ich fragte ihn einfach, er mochte den Song und teilte meine Vision. Eigentlich ganz undramatisch. Sein Verdienst um dieses Projekt darf nicht unterschätzt werden – er hauchte Leben in meine vertrocknete alte Seele.
BG: Du sagst, Du wirst künstlerisch angetrieben durch "die dystopische Klaustrophobie einer sich zunehmend dissoziierenden Welt". Was schmerzt Dich gesellschaftlich momentan am meisten?
PD: Nun, dafür muss mal sich doch einfach nur mal umschauen. Das Klima kippt, in Afghanistan passieren krasse Sachen, die Pandemie erschüttert die Gesellschaften und macht die Ungleichheiten in der Welt schmerzhaft transparent. Der Kapitalismus zeigt seine hässliche Fratze und in EU-Ländern wie Polen oder Ungarn wird die Zeit für LGBTIQ* ins Mittelalter zurückgedreht. Schmerzen gibt's also genug.
BG: Die landläufige Meinung ist, die Gothic-Szene sei offen und tolerant – und Safe-Space für sexuelle und geschlechtliche Identitäten. Würdest Du das so unterschreiben? Wie sind hier Deine Erfahrungen als queere Person?
PD: Ehrlich gesagt betrachte ich mich seit den späten 90ern nicht mehr als Teil dieser 'Szene'. Szenen generell meide ich wie der Teufel das Weihwasser, denn sie sind immer ein Mikrokosmos der Gesellschaft und funktionieren nach den gleichen Regeln wie das große Ganze. Jede Form von Szene bringt eine Art Hierarchie mit sich, mit der ich nichts zu tun haben möchte. Ich kann nur soviel sagen, dass es für einen queeren Menschen damals keinen besseren Ort gab, um die Geschlechterdichotomie hinter sich zu lassen, als die Gothic-Szene. Ich stieß 1991 dazu, als gerade die 2nd Wave so richtig Fahrt aufnahm. Kein Schwein hat es gekümmert, wenn du im Walle-Walle-Fummel rumgestöckelt bist und dich aufgeführt hast wie eine verzauberte Elfenprinzessin. Wie das heute ist, kann ich nicht sagen. In Berlin gibt es eine tolle Infrastruktur für Leute, die Minimal Wave, Cold Wave und sowas mögen. Diese Struktur wird sehr von lesbischen Frauen, weiblichen* Queers oder nicht binären Leuten geprägt – hat aber am Ende mit 'Gothic' im klassischen Sinne recht wenig zu tun.
BG: Apropos. Gerade queere Gothics sind ja noch mal eine ganz eigene 'Bubble' für sich. Wie hast Du Deine Jugend in der Düster-Szene verbracht (hello ICQ und Myspace) und wie hat sich, Deiner Meinung nach, diese Szene in den letzten Jahren verändert?
PD: Die Szene der frühen 90er war, wie bereits angedeutet, sehr hierarchisch aufgebaut. Zumindest in meiner Bubble. Es ging viel um wer kennt wen, wer ist 'Pseudo' und wer nicht und wer hat auf der Ballroom-Party in Esterhofen die krasseste Frisur. Ich war damals jung und voller Selbsthass und hab mir den Schuh dementsprechend angezogen. Das war nicht immer unbedingt empowernd. Umso mehr fühlte es sich wie eine Befreiung an, diese Szene zu verlassen und nach Berlin zu gehen, wo alles ein bisschen entspannter war. Aber ich will hier nicht nur herumnörgeln: Diese Szene, diese Musik und diese Menschen haben mich bis heute nie losgelassen. Ich werde also am Ende immer ein Goth-Kid bleiben, das ist Teil meiner DNA.
BG: Was kommt als Nächstes? Club-Remixe? Album? Live-Dates?
PD: Vermutlich werde ich mich erstmal um Remixe bemühen. Zeitgleich friemele ich an einer zweiten möglichen Single herum. Schauen wir mal.
Zum Schluss unsere fünf BOUYGERHL-Quickies:
Die Musik welcher Künstler*in beeindruckt Dich ganz aktuell?
Angela Werner, Totem, Konec, Aufbau, Giuni Russo, Rosy Rosy, Jo Squillo Eletrix – da könnte ich jetzt ewig weitermachen. Von den wirklich aktuellen Sachen hat mich tatsächlich die Platte von DIAF irgendwie geflasht. Wenn ich Songs wie 'Erbsündt' höre, fühle ich mich wieder wie 14. Und das will was heißen.
Guilty Pleasure?
Jennifer Rush
Celebrity Crush?
Ich stehe nicht auf Promis. Ich bevorzuge Menschen, die nicht wissen, dass sie gut aussehen. In meiner Nachbarschaft wohnt einer, den ich ziemlich heiß finde.
Womit kann man Dir eine Freude machen?
Vinyl
Christian Death: Rozz oder Valor?
Ganz unbedingt beide. Diese 'Valor oder Rozz'-Geschichte spiegelt für mich die Stagnation der Goth-Szene und hat mich immer stark gelangweilt. Klar hat sich Valor damals wie 'ne fiese Kuh benommen, aber dass sich die Leute deshalb seit 1985 nicht beruhigen können, strengt doch etwas an. Rozz Williams ist für mich – trotz gewisser Ambivalenzen in seiner Spätphase – die absolute queere Ikone, aber Valor-Alben wie 'Sex and Drugs and Jesus Christ' oder 'All the Love' gehören definitiv zu meinen Alltime-Favorites. Erst als Maitri dazu kam und immer dominanter wurde, ging es mit der Band in meinen Augen musikalisch wirklich bergab.
Queer Electronic Music: Electrosexual
Mit dem Berliner Produzenten Electrosexual fand Paura Diamante den idealen musikalischen Partner. Durch seine Produktion und sein Arrangement wurde aus einer Demo, die auf akustischer Gitarre basierte, ein wuchtiger und dunkler Synth-Wave-Chanson mit einer Prise düsterem Italo-Disco-Sound.
Electrosexuals eigene Veröffentlichungen sind ebenfalls im eher düsteren Bereich verortet: Ein eklektischer Mix aus EBM, Techno, Acid-House, Italo-Disco und Elektro – oder wie er es selbst beschreibt: Q.E.M. – Queer Electronic Music.
Bereits im Juni 2021 habe ich mit Electrosexual ein Interview für Bouygerhl geführt und über seine Musik gesprochen, darüber ob es das Label 'queer' noch benötigt, über sein peinlichstes Erlebnis auf der Bühne – und über Madonna.
- Interview Zacker
- Fotos Galya Feierman, Robert.M