Zwischen Party, Horror und Erleuchtung: Alice Dee im Interview

  • Ein Beitrag von Gastautor Mario Hartwig

Im Kreuzfeuer zwischen Party, Horror und Erleuchtung verortet Alice Dee die eigenen empowernden Geschichten, denen mit wechselnden Flows bei beachtlichem Tempo Leben eingehaucht wird. Ob persönlich oder politisch motiviert – die Musik und Lyrics sind kompromisslos, direkt und stets wortgewandt. Die schier unerschöpfliche Energiequelle befeuert Alice mit persönlichen Erfahrungen; unter anderem als Street-Worker*in. Mit 17 zog Alice aus dem Nürnberger Elternhaus aus und fand 2012 in Berlin die neue Wahlheimat. Pünktlich zum Release der brandneuen EP 'Double Check' sprechen wir über Gender-Identität, Kollaborationen und Inspiration.

Bouygerhl: In einem ZDF-Beitrag sagst du, du seist froh, dass sich mit der Bezeichnung 'nicht binär' ein Begriff etabliert hat, mit dem du dich gut identifizieren kannst; gleichzeitig jedoch, dass damit eine neue Schublade eröffnet wird, in der du nicht landen möchtest. Kannst du erzählen, welche Gefahren du in puncto Schubladendenken bei Gender-Identity bzw. Schubladendenken generell siehst?

Alice Dee: Ich sehe Gender-Identität oder allgemein 'Identität' als etwas, das immer in Bewegung ist, das kein Ende hat, sich weiterentwickelt, als Prozess, der nie aufhört und nicht als etwas Starres. Schubladen und Labels können helfen, diesem Prozess einen Namen zu geben, aber in dem Moment, wo du es benennst, wird dieses ganze komplexe Geflecht, das mit Identität(en) zu tu hat, aus dem Zusammenhang gerissen und auf einen Aspekt reduziert. Darin sehe ich das Problem. Das alles ist viel zu groß, um es mit einem Wort erklären und herunterbrechen zu können. Identitäten sind in sich auch widersprüchlich und passen eben nicht einfach in eine Schublade, sondern kämpfen vor allem auch gegen diese an.

BG: Als nicht binäre Person wurdest und wirst du wahrscheinlich immer wieder stigmatisiert bis diskriminiert. Wie gehst du aktuell mit solchen Erfahrungen um und was würdest du deinem jüngeren Ich im selben Bezug aus heutiger Sicht mit auf den Weg geben?

AD: Ich muss immer und immer wieder lernen, wie ich zu mir selbst freundlich bin, wenn ich in Situationen gerate, die mich verwirren, isolieren und taub werden lassen. Meistens dauert es, bis ich wirklich verstehe, was passiert und oft wendet sich die Energie erst mal gegen mich selbst. Was mir hilft ist das Schreiben, Musikhören, Musikmachen oder mit meinen Besties und Geschwistern connecten. Heute weiß ich, dass du dich gut fühlst, wenn du mit den richtigen Menschen zusammen bist. Ich würde meinem jüngeren Ich sagen: Mit dir ist nichts falsch. Vertrau dir! Wenn du dich wie ein Fremdkörper fühlst, ist das ein Hinweis, dass mit deiner Umgebung, in der du bist, etwas nicht stimmt, aber nicht mit dir.

BG: Wo wir bei Schubladen sind: Menschen zelebrieren es, auch Musik in solche zu stecken und ordnen sie gern ein. Wo verortest du deine Musik aus deiner ganz persönlichen Sicht? Gibt es ein Rap-Subgenre, das Alice Dee selbst kreiert (hat)?

AD: Hahaha, ja! Ich habe mein Genre mal 'dhirrty psycho happy hip hop' genannt. Heute ist es grimey-space-rave – hahaha – nein, Spaß. Ich mag es, verschiedene Genres miteinander zu vermischen und offen und experimentierfreudig zu bleiben. Ich versuche einfach das zu tun, was sich gut anfühlt. Mal ist es empowernd, mal düster, mal überladen, mal ruhig. Mich interessiert das ganze Spektrum an Musik und ich möchte mich ausprobieren, viel lernen und mich selbst nicht begrenzen.

BG: Bei deinen Tracks arbeitest du mit Produzent*in Spoke zusammen. Kannst du ein bisschen darüber reflektieren, wie eure Zusammenarbeit zustande kam, wie sich der gemeinsame Produktionsprozess gestaltet und was du an Spoke schätzt?

AD: Ja, Spoke hat mit mir die ganze EP aufgenommen und gemischt. Und das war ein sehr intensiver und wertvoller Prozess für mich. Wir haben uns früher über einen Kollabo-Track, den Spoke angeleiert hat, kennengelernt und seitdem haben sich unsere Wege immer wieder gekreuzt. Als wir zusammen aufgenommen haben, war ich sehr glücklich, weil ich mich sehr wohlgefühlt habe, Vertrauen hatte und mich auf die EP konzentrieren konnte. Spoke war es wichtig, das Beste rauszuholen und dass ich am Ende zufrieden bin. Dafür bin ich sehr, sehr dankbar. Es ging nicht um Ego oder darum, sich gegenseitig etwas zu beweisen, sondern der Fokus lag auf guter Zusammenarbeit und der Vision, wie alles am Ende klingen soll. Spoke ist einfach eine krasse Person und Engineer und ich schätze sehr, dass Spoke so offen ist, sich auszuprobieren und herauszufordern. Und das alles mit guter Kommunikation – das war einfach perfekt.

Ich wünsche mir, dass meine Musik bewusstseinserweiternd wie LSD ist. Das kann Party, Horror oder Erleuchtung bedeuten.

BG: Du setzt bisher komplett auf Selbst-Release ohne große Promo-Maschinerie. Trotzdem schaffst du es bereits auf beachtliche Stream-Zahlen und Reichweite. Wie sieht dein Rezept aus, deine Musik so erfolgreich zu promoten?

AD: Haha, bei der Frage muss ich lachen. Bis vor kurzem dachte ich genau das Gegenteil und nicht, dass ich meine Musik 'erfolgreich promote'. An erster Stelle steht bei mir die Musik selbst und Promo ist etwas, das häufig runterfällt. Deshalb habe ich mir auch Unterstützung geholt von Laura und monalinapromo. Ihr ist es zu verdanken, dass die Songs mehr Reichweite bekommen. Ich habe auch meinen digitalen Vertrieb gewechselt, aber letztendlich glaube ich daran, dass die Qualität der Musik das Entscheidende ist.

BG: Dein Artist Name birgt eine Hommage zur gleichklingenden Partydroge. Affinität oder bewusste Ironie? Siehst du darin eine Diskrepanz in puncto Vorbildfunktion in Bezug auf deine Arbeit als Street Worker*in?

AD: Ich wünsche mir, dass meine Musik bewusstseinserweiternd wie LSD ist. Das kann Party, Horror oder Erleuchtung bedeuten. Ich sehe darin keine Diskrepanz in puncto Vorbildfunktion, denn Drogen allein sind ja nicht das Problem, sondern der Umgang damit. Mir ist es wichtiger, ein Gespräch zu eröffnen, als es zu vermeiden. Jugendliche haben viele Fragen zum Thema Drogen und ich möchte, dass sie sich wohlfühlen, diese bei mir zu stellen. Ich möchte nicht, dass sie Angst haben müssen, von mir bewertet oder abgelehnt zu werden, sondern, dass sie Lust bekommen, über sich selbst nachzudenken und sich kennenzulernen, sodass sie gute Erfahrungen machen.

BG: Inwiefern ist der Kontakt mit den Jugendlichen auf der Straße ein Spiegel bzw. eine Inspirationsquelle für deine Kunst?

AD: Der Kontakt mit Jugendlichen hilft mir dabei, nicht zu vergessen, wo ich herkomme und auf was es im Leben ankommt. Das ist auch wichtig für meine Kunst.

BG: Deine Tracks sind bei beachtlichem Tempo lyrisch sehr dicht gepackt. Respekt dafür! Wann hast du eigentlich angefangen und wie oft probst du deine Tracks, bis sie studio- bzw. bühnenreif sind? Wie entsteht so ein Alice Dee Songtext im Regelfall?

AD: Wie oft ich die Tracks probe, ist schwer zu sagen – auf jeden Fall öfter als früher und ich arbeite an meiner Technik auch mithilfe von Gesangsunterricht. Texte entstehen bei mir auf sehr unterschiedliche Weise. Meistens bin ich unterwegs, sitze im Auto oder Zug und wenn die Gedanken frei fließen, kommen die Ideen.

BG: Deine aktuelle Single 'Kriminell' thematisiert unter anderem rassistische Gewalt. Hast du in deinem Umfeld entsprechende Fälle erlebt?

AD: Als weiße Person erlebe ich ja selbst keine rassistische Gewalt, aber Freunde von mir schon. Sie haben mir erzählt, wie sie ständig von der Polizei angehalten werden und vor den Augen aller Menschen an öffentlichen Plätzen schikaniert werden – ohne wirklichen Verdacht – einfach nur aufgrund von rassistischen Zuschreibungen. Das ist per Gesetz verboten und heißt 'racials profiling'. Das macht mich richtig wütend und ich will einfach mit solchen Songs dazu beitragen, dass wir mehr über diese Themen reden, sodass sich etwas verändert.

'Racials Profiling' macht mich richtig wütend und ich will dazu beitragen, dass wir mehr über diese Themen reden, sodass sich etwas verändert.

BG: Auf deiner neuen EP werden 4 Tracks inklusive der bisher unveröffentlichten Single 'Word' sein, richtig? Wie wirst du den Release zelebrieren?

AD: Ja genau. Wie ich das zelebriere? Das ist eine gute Frage. Wegen der Pandemie wird eine wirkliche Feier nicht drin sein, aber ich werde das mit meinen Friends in einem kleinen Rahmen feiern.

BG: Im Song 'Elefant' hast du mit Sera Kalt, YETUNDAY, La By'le, Pitota und Cara Muru kollaboriert. Das sind ja ganz schön viele Namen. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

AD: Wir kennen uns von gemeinsamen Konzerten und haben uns gut miteinander verstanden.

BG: Mit welchen Künstler*innen würdest du in Zukunft gern zusammenarbeiten und warum? Das müssen nicht nur Musiker*innen sein.

AD: Einen Künstler, den ich sehr schätze, ist Ilhan 44. Mit ihm würde ich in Zukunft gerne einen Song machen. Ein Lebenstraum wäre, mit Mykki Blanco, Angel Haze oder Flohio zusammenzuarbeiten. Im Endeffekt habe ich allgemein Lust auf Zusammenarbeit in allen Bereichen wie z.B. auch Video, Visuals, Mode. Ich bin gespannt, wen ich noch alles kennenlernen werde.

Zum Schluss unsere fünf BOUYGERHL-Quickies:

Die Musik welcher Künstler*in beeindruckt dich ganz aktuell?
Auf jeden Fall Little Simz!!! Sie ist so krass. Ich liebe ihr neues Album und habe wirklich sehr viel Respekt vor ihr.

Celebrity Crush?
Mmh – Ich bin zu abgelenkt von den Crushes in meinem Leben, da fällt mir spontan kein Celebrity ein.

Guilty Pleasure?
2 Liter Eiscreme essen.

Lieblingsfilm/-serie?
Matrix.

Die Zukunft der Welt: Utopie oder Dystopie?
Schwierig. Eigentlich Dystopie. Aaaaber ich glaube auch an Veränderung und die neue Generation. Sie machen mir Mut, weil sie viel weiter sind, sich stark machen für Themen wie Umwelt, Rassismus, Gender und Inklusion und etwas verändern wollen.


© Noclof

Gastautor d'Amour: Mario Hartwig

Mario Hartwig ist Musiker, Musikredakteur, Musikwissenschaftler und Tontechniker aus Leipzig. Bei seinem Epic-Pop-Soloprojekt Aquario agiert er autark als Sänger, Texter und Produzent. Mit seiner Band Glassgod zelebriert er seine Liebe zum Symphonic Metal. Am liebsten fusioniert er orchestrale, elektronische und ethnische Einflüsse mit einprägsamen melodischen Themen zu atmosphärischen Songs. Mario ist selbst Teil der queeren Musikszene und entwickelte eine besondere Faszination für Ikonen der Popkultur, die Musik und visuelle Ästhetik zu ihrem konzeptionellen Image verschmelzen. Auch bei seinen eigenen Musikprojekten legt er besonderen Wert auf diese Einheit.

2016 absolvierte er sein Masterstudium der Musikwissenschaften an der Universität Leipzig, das er mit einer Weiterbildung zum Tontechniker krönte. Über die Leipziger Musikszene hinaus ist er stetig auf der Suche nach neuen Künstler*innen und Trends, rezensiert Veröffentlichungen und führt Interviews; bisher unter anderem mit Joy Denalane, Michael Schulte, Bosse und ela.

  • Interview Mario Hartwig
  • Fotos Fabienne Karmann, Asbokid